Dienstag, 20. Dezember 2016

Rezension | Ich gebe dir die Sonne

 
Jandy Nelson | Einzelband | cbt | 17,99€ | OT: I'll give you the sun | November 2016 | 480 Seiten

Am Anfang sind Jude und ihr Zwillingsbruder Noah unzertrennlich. Noah malt ununterbrochen und verliebt sich Hals über Kopf in den neuen, faszinierenden Jungen von nebenan, während Draufgängerin Jude knallroten Lippenstift entdeckt, in ihrer Freizeit Kopfsprünge von den Klippen macht und für zwei redet. Ein paar Jahre später sprechen die Zwillinge kaum ein Wort miteinander. Etwas ist passiert, das die beiden auf unterschiedliche Art verändert und ihre Welt zerstört hat. Doch dann trifft Jude einen wilden, unwiderstehlichen Jungen und einen geheimnisvollen, charismatischen Künstler ...


 So fängt alles an.

 
"Ich drehe mich um und erinnere mich wieder daran, dass wir zusammen entstanden sind, Zelle für Zelle. Wir haben uns schon Gesellschaft geleistet, als wir weder Augen noch Hände hatten. Sogar noch bevor unsere Seele geliefert wurde."
(Seite 108)

Es fällt mir tatsächlich schwer, eine Bewertung für "Ich gebe dir die Sonne" zu finden, denn es ist anders. Es sticht so heraus, dass ich zunächst gar nicht sagen konnte, ob ich nun begeistert oder perplex bin. Aber mittlerweile kann ich sagen, dass die Andersartigkeit vollkommen positiv ist. Ich gebe dir die Sonne ist ein wundervolles Buch, das den Lesealltag für ein paar Stunden erstrahlen lässt.

Gleich zu Beginn merkt man die Besonderheiten des Schreibstils, welche mir auf den ersten Seiten auch noch etwas Schwierigkeiten bereitet haben. Jandy Nelson verwendet unglaublich viele Metaphern, Vergleiche und andere abstrakte, fast übertrieben ausgedrückte Ideen, selbst um einfache Aussagen auszudrücken. Wenn einem der Schreibstil nicht zusagt, wird man auch nicht viel Freude am Buch haben, so viel steht fest. Denn er trägt wesentlich dazu bei, das Buch in besonderem Maße zu gestalten; ohne diese spezielle Ausdrucksweise würde die Geschichte nicht funktionieren.

Ganz zu schweigen davon, dass ich den Schreibstil sowieso nicht ändern wollen würde. Er verleiht Noah und Jude so viel Gefühl, Energie und Persönlichkeit. Klar, man muss sich auf ihn einlassen können und wenn jeder Autor so diffus schreiben würde wie Nelson, würde ich wahrscheinlich ausflippen. Aber so ist er einmalig für Ich gebe dir die Sonne bzw. die anderen Werke der Autorin und bietet eine bemerkenswerte Abwechslung.


Wo ich oben schon die Charaktere erwähnt habe: Noah und Jude sind Zwillinge, behaupten von sich selbst, dass sie sich eine Seele teilen - und doch ist es gelungen, bei beiden so unterschiedliche Persönlichkeiten zu entwickeln. Die Handlung wird abwechselnd erzählt, jeweils aus der Sicht des 13-jährigen und 16-jährigen Protagonisten. Weder Noah noch Jude kann man im Entferntesten als gewöhnlich bezeichnen: Noah, das Künstlertalent, hat zu jedem Ereignis die Idee im Kopf, wie es sich abstrakt zeichnen lässt, während Jude mit dem Geist ihrer Großmutter spricht und den Rat ihrer eigenen Bibel befolgt - was beispielsweise dazu führt, dass sie stets eine große Zwiebel mit sich herumträgt, um sich vor Übel zu schützen. Ja, das klingt schräg und es wird noch schräger, aber es ist auch herrlich erfrischend!
Einerseits bewundert man, wie leidenschaftlich Noah als Romantiker sein kann und wie bewegend er seine Gefühle ausdrücken kann; andererseits muss man mit Jude schmunzeln, lachen und abergläubischer werden, um die Realität nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Wie gesagt, man muss auf eine seltsame Weise bereit für das Buch sein und so in Kauf nehmen, dass sich die zwei oft unreif oder extrem verhalten. Das gehört dazu.

Ich gebe dir die Sonne ist also in vielerlei Hinsicht eine ganz neue Leseerfahrung. Es handelt von Themen wie Erwachsenwerden, Liebe und Homosexualität, Familienkrisen und Kunst; kurz gesagt, dem Sich-selbst-finden. Und dies bereitet die Autorin wundervoll auf, wobei ich gerade die kleinen, scheinbar bedeutungslosen Einzelheiten so liebevoll finde: "mit den Händen wünschen", "Wenn ein Junge einem Mädchen eine Orange schenkt, wird ihre Liebe zu ihm um ein Vielfaches stärker werden." usw.

»Ich liebe dich«, sage ich zu ihm, aber aus meinem Mund kommt: »Hey.«
»Und ich dich erst«, erwidert er, aber man hört nur: »Mann.«
(Seite 174)

 
Ich gebe dir die Sonne ist ein ganz und gar anderes Buch: außergewöhnlich, liebevoll, wunderschön. Allerdings deshalb, weil mich der Schreibstil und die Charaktere immer mehr verzaubert haben und ich mich auf die Geschichte einlassen konnte; dies wird nicht bei allen Lesern der Fall sein.
Aber für mich ist es eine so erfrischende und besondere Lektüre, dass ich gar keine Sternebewertung vornehmen möchte. Es fällt aus dem Rahmen und es passt mir nicht, es jetzt in eine Ziffer quetschen zu wollen.


[Aber da dies eventuell einmal notwendig sein wird, ich würde mich wohl für 4,5/5 entscheiden. Etwas, das ich nicht klar benennen kann (am ehesten der Plot, bei dem ich nicht ganz überzeugt bin, hält mich zurück, die vollen 5 zu geben, aber ich finde es sowieso schwierig, das Buch zu bewerten. Es ist eben ... anders. Am besten, ihr lest es selbst!]

7 Kommentare:

  1. Hi Noemi,
    ich habe vor 6 Jahren bereits das erste Buch von Jandy Nelson gelesen und war schon damals geflasht von ihrem Schreibstil und der emotionalen Geschichte, deshalb war dieses Buch hier für mich ein absolutes Must-Read. Und ich habe es GELIEBT! Von Anfang bis Ende. Lies unbedingt auch ihr erstes Buch "Über mir der Himmel", ich glaube, das war noch etwas gemäßigter als dieses hier, aber auch ganz wunderbar.
    Liebe Grüße

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    1. Das werde ich auf jeden Fall noch tun, vor allem, wenn du so begeistert warst! Danke :)

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  2. Hallo meine liebe Noemi,

    eine wundervolle Rezi hast du da wiedermal geschrieben! <3
    Und deine Fotos dazu gefallen mir auch total gut. :)

    Das Buch klingt wirklich toll und ich habe gerade gelesen, dass von der Autorin auch ein Buch bald verfilmt wird. *-*

    Ich habe es mir jetzt gleich mal auf meine Wunschliste geschrieben, danke dir für die Empfehlung! :)

    Ganz liebe Grüße und dir noch einen wundervollen vorweihnachtlichen Donnerstag,
    deine Hannah
    <3

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    1. Oh, das mit der Verfilmung ist an mir vorbei gegangen! Gut, dass du das erwähnt hast, da bin ich mal gespannt, wie ihr Schreibstil umgesetzt werden soll :o

      Immer gerne mit den Empfehlenden :D und danke für deinen Kommentar, meine liebe Hannah!♡

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  3. Huhu meine liebste Noemi <3

    uhh, das klingt aber echt toll und wirklich anders, das mag ich ja sehr :). Auf meiner Wunschliste ist das Buch schon eine ganze Weile, jetzt muss es nur noch bei mir einziehen.

    Danke für deine bezaubernde und begeisterte Rezension :-*

    Drück dich,
    Ally

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    1. Ich danke dir, liebste Ally, für deine zauberhaften Kommentare!♡

      Ich hoffe, du hast ganz viel Freude und glückliche Lesestunden mit dem Buch!

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  4. Hi Noemi!

    Deine Rezension ist wirklich wunderbar geschrieben - besonders gefallen mir die Bilder, die einfach toll aussehen.
    Ich finde, Du hast die Zitate sehr treffend ausgewählt; sie machen jedenfalls definitiv Lust auf mehr :)

    Das Buch hat mich so neugierig gemacht, dass es auch gleich auf meine WuLi gewandert ist ^^


    Liebe Grüße,
    Lara

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